Redebeitrag vom 27.01.2024: Jüdisches Leben heute

Wir dokumentieren hier einen Redebeitrag von unserer Kundgebung am 27.01.2024:

„Wir sind nicht migriert, weil wir Zionisten waren, oder so etwas. Sondern weil es einfach nicht mehr möglich war, dort zu leben“ – dies ist ein Zitat meines Opas aus dem letzten Jahr. Dort, wo es als Juden und Jüdinnen, nicht mehr möglich war zu leben, war Gomel, Belarus. Kein Jahr nach meiner Geburt zog Opa mit einem Teil meiner Familie nach Israel.
Nicht mehr möglich zu leben war es dort, weil der Antisemitismus in den 90er Jahren in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion massiv anstieg. Bereits in der Nachkriegszeit gab es vermehrt Auswanderung sowjetischer Juden und Jüdinnen. Der Sechstagekrieg im Juni 1967 führte zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Israel und der UdSSR, worauf antizionistische Kampagnen entstanden und der Antisemitismus in der Sowjetunion weiter anstieg.

1989 reisten bereits 50.000 Juden und Jüdinnen aus der Sowjetunion vor allem in die USA und nach Israel aus. Doch auch nach West- und Ost-Berlin. In letztere kamen sie vor allem über Touristenvisa.
Die Auswanderung nach Deutschland wurde offiziell erst im Jahr 1991 geregelt.

Dies wurde möglich durch Maßnahmen im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen, das sogenannte Gesetz der jüdischen Kontingentflüchtlinge, welches am 09.01.1991 durch die Ministerpräsidentenkonferenz verabschiedet wurde.
So wurde die Grundlage für eine jüdische Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland geschaffen. Deutschland konnte sich wieder Juden und Jüdinnen ins Land holen. 

Im Gegensatz zu anderen Kontingentgeflüchteten mussten Jüdinnen und Juden keinen Nachweis über eine Verfolgung erbringen. Zur Einreise war der Nachweis über die Abstammung von einem jüdischen Elternteil ausreichend. Dieser Nachweis konnte über die sowjetischen Personalausweise erbracht werden, in dem unter dem 5. Paragraphen die национальность nacional’nost’ (Nationalität / Volkszugehörigkeit) festgehalten wurde und bei Jüdinnen und Juden еврей evrej (Hebräer / Jude) eingetragen war.
So kamen zwischen 1991 und 2005 knapp 220.000 Einwandernde als jüdische Kontingentgeflüchtete in die Bundesrepublik. Etwa 85.000 davon traten der Jüdischen Gemeinde in Deutschland bei. Viele wurden in Deutschland nicht als Juden und Jüdinnen anerkannt, denn in den Gemeinden in Deutschland gilt die Halacha, das jüdische Recht, nach der Jude oder Jüdin ist, wer eine jüdische Mutter hat, oder rechtmäßig zum Judentum übergetreten ist. In der ehemaligen Sowjetunion wurde das Judentum patrilinear vererbt, Jude / Jüdin war also wer einen jüdischen Vater hatte.
Vor der Einwanderung von jüdischen Migrant:innen aus der ehemaligen Sowjetunion, in den 1980er Jahren, gab es in Deutschland etwa 30.000 Gemeindemitglieder, die meisten höheren Alters. Hätte es diese Migrationsbewegung nicht gegeben, sähen die Gemeinden heute ziemlich leer aus.

Warum spreche ich das an? Warum ist das relevant?
Weil etwa 90 Prozent der aktuell etwas über 100.000 Gemeindemitglieder aus dem postsowjetischen Raum kommen und noch mehr jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland leben.

Ende 2004 wurde das Gesetz der „jüdischen Kontingentflüchtlinge“ wieder abgeschafft. Seit 2005 können Juden und Jüdinnen nur über ein hürdenreiches Punktesystem nach Deutschland kommen. Unter anderem braucht es einen Nachweis über Deutschkenntnisse, eine nachweisbare positive Integrationsprognose (also einen Arbeitsplatz) und die Zusicherung über eine mögliche Aufnahme in eine jüdische Gemeinde. Seit 2005 kommen jährlich etwa 100 Menschen über dieses Gesetz nach Deutschland.

Nach dem erweiterten Angriffskrieg russlands auf Ukraine, der sich in einem Monat zum zweiten Mal jährt, wurden die Bedingungen zur Einreise für jüdische Ukrainier:innen vereinfacht. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden bearbeitete bis Oktober ’23 2.000 Anträge und rechnet mit weiteren 3.000.

Weitere tausend Jüdinnen und Juden flohen in den letzten zwei Jahren aus Ukraine nach Israel. Nun sind diese Menschen erneut einem Krieg ausgesetzt. Viele schauen aber auch von Deutschland aus auf zwei Kriege, in die Ukraine und nun auch nach Israel und bangen um ihre Liebsten.

Heute vor 79 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Seit 1996 ist der 27. Januar der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland, seit 2005 international. Es ist wichtig, hier heute zu stehen und zu erinnern, doch das reicht nicht. Antisemitismus ist allgegenwärtig für Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft. Es reicht nicht „Nie wieder“ am 27.01 oder 9.11 zu rufen und das restliche Jahr über zu schweigen, wenn man alltäglichem Antisemitismus begegnet. Wenn Menschen offen angefeindet werden, wenn Juden und Jüdinnen der Raum verwehrt wird, oder wenn antisemitische Parolen auf Demonstrationen skandiert werden.

Es reicht auch nicht, diesem Tag zu Gedenken und die Sowjetunion lediglich als Befreier zu sehen.

Die Leben von Jüdinnen und Juden, sowie auch vieler anderen Menschen der ehemaligen Sowjetunion waren in dem sozialistischen System von Massendeportationen, Umsiedlungen und Flucht geprägt. Struktureller und alltäglicher Antisemitismus war die Regel. Die Menschen wanderten aus, um vor einem zerfallenen System zu fliehen, das sie Jahrzehnte unterdrückt und russifiziert hat.
Die Sowjetunion kämpfte zwar gegen Nazi-Deutschland. Jüdische Sowjets waren in der Roten Armee, doch hat dies den Antisemitismus im eigenen Land nicht gemindert.
Das Jüdische Antifaschistische Komitee, das sich nur wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gründete und gegen das nationalsozialistische Deutschland mobilisierte, fand innerhalb der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion Zuspruch. Nicht aber in der Regierung des Staates: dort war es lediglich als ein kurzzeitiges Phänomen angesehen, das dem Notstand des Krieges geschuldet war und wurde Ende 1948 endgültig durch die Staatssicherheit aufgelöst. Zu groß war die Sorge vor einem jüdischen Staat auf dem Gebiet der Sowjetunion. Zu groß die Angst, dass durch eine Aufarbeitung des 2. Weltkrieges die Kollaborationen der Sowjets mit Deutschland ans Licht kommen würden und der Erzählung vom „großen vaterländischen Krieg“ widersprochen würde.

Leider kommt es in Deutschland nicht selten auch von linker Seite zur Glorifizierung der Sowjetunion. Das haben wir in der fehlenden Solidarität mit Ukrainer:innen gesehen, als Antiimperialist:innen „Das ist nicht unser Krieg“ riefen und sich gegen eine Unterstützung der Ukraine stellten. Eine Romantisierung russlands, das sich als Nachfolgestaat der Sowjetunion inszeniert, führt zu einer Relativierung der Taten beider. Die Verwendung von Symboliken des kommunistischen Regimes sind nicht unüblich. Gleichzeitig bleibt eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen dieser Staaten aus und jegliche Kritik an diesen wird abgewendet.

Fast alle Menschen aus dem postsowjetischen Raum haben Deportationsgeschichten in ihren Familien. Dies bleibt hier nicht selten ein blinder Fleck – was dem Gedenken an das jüdische Leben im Hier und Jetzt nicht gerecht wird. Wir können keinem diskriminierendem Regime gedenken, das Millionen von Menschen Säuberungswellen unterzogen hat.

Deutschland versprach den Jüdinnen und Juden durch die Migration ein besseres Leben.

Als jüdisch auf dem Papier immigriert, als „russ:innen“ im Alltag gelesen.

Außer der Möglichkeit zum Auswandern war jedoch nie viel gegeben und im Alter bleibt nur noch die Armut. Über 200.000 jüdische Menschen mit ihren Familien lud Deutschland ein, zu kommen. An die 93% dieser jüdischen Einwanderer sind heute auf eine Grundsicherung im Alter angewiesen (Stand 2021). Von den deutschen Rentner:innen sind 2,6% und von den ausländischen Rentner:innen 17,3% auf diese Grundsicherung angewiesen.

Abschlüsse und Ausbildungen von jüdischen Kontingentgeflüchteten wurden nicht anerkannt, frühere Jobqualifikationen übergangen. Eine stichprobenartige Befragung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden ergab, dass rund 69 Prozent der jüdischen Zugewanderten, die vor 1954 geboren wurden, über einen akademischen Abschluss verfügten. Bei knapp 80 Prozent wurden die Abschlüsse nicht anerkannt.

Die meisten fanden sich in Tätigkeiten wieder, die weit unter ihren Qualifikationen lagen. Kontingentgeflüchtete wurde nicht in das Fremdrentenrecht eingebunden. Die mitgebrachte Arbeitszeit aus dem sowjetischen System wurde nicht im Rentensystem angerechnet. Eine Rente von unter 300 Euro ist nicht unüblich.
Seit Mitte Januar 2023 können Betroffene nun eine Einmalzahlung bei der Geschäftsstelle der Stiftung „Härtefallfonds“ erwirken. 2.500 Euro stehen einem zu. Wenn das Bundesland, in dem man wohnt, sich an diesem Verfahren beteiligt, können es bis zu 5.000 Euro werden. Einmalig. Zu einer Rente, die nicht mal meine Miete decken würde. Nordrhein-Westfalen beteiligt sich nicht an diesem Prozess.

Zu Anlässen, wie dem heutigen 27.01, wird von Politiker:innen hier in Deutschland betont, wie viel diesem Land an dem jüdischen Leben liege. Im Alltag jüdischer Menschen sieht man davon sehr wenig. Die Anträge auf eine Summe für eine Einmalzahlung kann man noch bis zum 31.01.2024 ausfüllen, also noch genau vier Tage, danach entfällt diese symbolische Geste seitens der Politik.

Jüdinnen und Juden sind weiterhin auf Grundsicherung und Zusatzverdienste im Alter angewiesen. Ist das die Wertschätzung, die Deutschland für jüdisches Leben übrig hat?

Was bedeutet das für das jüdische Leben heute?

Erinnern heißt Gedenken.
Erinnern heißt lernen über das heutige jüdische Leben in Deutschland, die Herkunft jüdischer Menschen und den Weg in dieses (oder andere) Länder. Es heißt auch Widersprüche der Geschichte aufzunehmen, statt die Komplexität dieser auf simple Slogans herunterzubrechen und sich mit Symbolen von repressiven Regimen zu schmücken.

Erinnern heißt Gedenken.
Erinnern heißt aber auch Antisemitismus bekämpfen.
Aktiv bekämpfen an jedem Tag im Jahr.
Den Antisemitismus, der hier und jetzt im Alltag aufkommt,
ebenso wie den strukturellen Antisemitismus.

Nie wieder heißt Antisemitismus bekämpfen – jetzt!



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