Audiobeitrag vom 16.12.2023: Der Antisemitismus der Anderen

Wir dokumentieren hier einen Kommentar von Levi Israel Ufferfilge. Der Kommentar wurde von Deutschlandfunk Kultur im November 2023 als Audiobeitrag veröffentlicht und auf unserer Kundgebung am 16.12.2023 abgespielt. Der Kommentar ist Online unter folgendem Link abrufbar: https://www.deutschlandfunkkultur.de/antisemitismus-debatte-kommentar-100.html

Wer ist der schlimmste Antisemit im Land? Das ist die offenbar wichtigste Frage im hiesigen Antisemitismus-Diskurs. Die Frage, auf die jeder eine Antwort möchte. Oder vielmehr: auf die jeder eine Antwort geben möchte. Reichsbürger, Muslime oder doch die Linken? Und was ist eigentlich aus den Neonazis geworden? Ich möchte am eigenen Leib reflektieren, bevor ich Ihnen verrate, wer der schlimmste Antisemit Deutschlands ist. Seit meiner Jugend trage ich in meinem Alltag eine Kippa auf dem Kopf. Sie erinnert mich daran, dass wir Menschen nicht das höchste Maß aller Dinge sind. Dass Gott mich behütet. Und sie drückt meine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk aus.

All das und mehr sehe ich in ihr und all das schätze ich an ihr. Viele Menschen in diesem Land scheinen meine Kippa gar nicht zu schätzen. Sie sehen in ihr eine Zielschiebe auf dem Kopf eines Juden. Meine Kippa ist ein ungewollter Detektor von Antisemiten. Ob in der Bahn oder auf der Straße, beim Einkauf oder Picknick, in der Schule oder an der Universität, im Kino oder in der Oper – Antisemitismus begegnet mir überall. Er ist fester Bestandteil meines Alltags.

Ich erlebe oft, dass wenig gebildet erscheinende Menschen mich als „scheiß Juden“ beschimpfen. Ich habe aber auch erlebt, wie mich ein namhafter Firmenchef bei einer Preisverleihung als „den cleveren Juden“ bezeichnete und dafür freundlichen Applaus erhielt.

Während der Beschneidungsdebatte 2012 bezichtigte mich ein Professor in seiner Vorlesung stellvertretend für alle Juden „fremdartiger barbarischer Praxen“. Eine Historikerin wiederum sagte mir einst, ich könne als Jude anders als sie, die christliche Deutsche, nicht objektiv auf die Shoah blicken und solle mich deshalb aus dem „innerdeutschen“ Diskurs heraushalten.

Ich habe erlebt, dass Neonazis mich beim Warten auf dem Gleis bedroht haben, dass arabische Jugendliche mich mit Glasflaschen aus Mülleimern beschmissen, ich hatte einmal einen griechischen Nachbarn, der mich vor einem Supermarkt zu Boden schlug, weil er wie er sagte, „den Job zu Ende bringen“ wolle, den die Nazis nicht beendet hatten. Ich hatte Baptisten vor meiner Synagoge, die mich davor warnten, die „Synagoge des Satans“ zu betreten, und riefen, ich gehörte getauft.

Die meisten aber, die mir gegenüber antisemitisch auftreten, sind durchschnittlich gekleidete, sich unauffällig gerierende Menschen, deren Hintergrund ich nicht abschätzen kann. Will sagen: Ich erlebe Antisemitismus von Armen wie Reichen, Dummen wie Klugen, Rechten wie Linken, Muslimen wie Christen. Es ist banal, danach zu fragen, wer von ihnen der schlimmste Antisemit sei. Meinem Kieferknochen ist egal, welcher Judenhasser ihn bricht.

Doch ich erlebe eine ständige Verknappung des Antisemitismusdiskurses auf nur eine Gruppe, ob in Politik, Medien oder auf der Straße. Viele Konservative fragen nur nach dem Antisemitismus von Linken und Muslimen, Progressive nur nach AfDlern und Neonazis, so genannte Biodeutsche nur nach Migranten. Meist soll ich als gebrauchter Jude den jeweiligen Gruppen lediglich bestätigen, dass deren politische Feindbilder auch noch Antisemiten sind. Mein Leid interessiert sie nicht, sondern ist bloß Munition im Kampf gegen die jeweils andere Seite.

Das nächste Mal, wenn ein Pastor Luthers auch rassischen Antisemitismus als bloße theologische Enttäuschung verharmlost, ein Politiker partout nicht über den Antisemitismus der eigenen Partei, aber sehr wohl über jenen der Konkurrenz sprechen möchte oder einmal mehr ein Journalist in einem Artikel suggeriert, es gebe nur diese eine schlimmste Gruppe von Judenhassern, sagen Sie bitte denen und sich: der schlimmste Antisemit im Land ist der, über den gerade nicht gesprochen wird.



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